WIR LADEN EUCH EIN!
stand in großen Buchstaben auf dem Anschlag in der nephrologischen Ambulanz, darunter ein Bild, an dem mein Blick sofort hängen blieb. Es zeigte einen Hof in den Bergen, umgeben von grünen Almen und unter einem knallblauen Himmel.
Es war März. Bei uns in Hannover wurde der verregnete, graue Winter gerade von einem nassen, grauen Frühling abgelöst. Blauen Himmel hatten wir seit Wochen nicht mehr gesehen. Und Berge? Unsere norddeutsche Tiefebene ist so flach, dass Witzbolde behaupten, man könne schon Freitag sehen, wer Sonnabend zu Besuch kommt - wenn es nicht gerade regnet.
Ich las das Kleingedruckte: es wurden Herbstferien auf dem Ederhof für nierenkranke Kinder und ihre Familien angeboten, finanziert von der „Selbsthilfe für nierenkranke Kinder und Jugendliche e.V.“. Der Ederhof ist ein Rehazentrum in Osttirol, Österreich, spezialisiert auf Kinder vor und nach Organtransplantationen. Frau Professor Offner hatte sich freundlicherweise bereit erklärt, die Gruppe zu begleiten und für die medizinische Betreuung zu sorgen.
Österreich! Wieder kamen Erinnerungen. Mein letzter Besuch in Österreich war sicherlich 20 Jahre her. Wandern und Skifahren! Schillinge und Groschen! Ach nein, dort gab es ja inzwischen auch den Euro. Ob es wohl noch Marillenknödel gab? Karfiolcremesuppe? Powidltaschen? Seit der Geburt unseres schwer nierenkranken Sohnes vor 3 Jahren waren wir nie mehr als drei Stunden von Hannover entfernt gewesen, immer in Sorge, dass eine plötzliche Gesundheitsverschlechterung einen Krankenhausaufenthalt notwendig macht. Warum nicht mal Urlaub machen? In Österreich!
Ein halbes Jahr später standen wir auf dem Bahnhof und musterten unsere Mitreisenden. Es war ein schöner Herbsttag. Die Gruppe sah etwas seltsam aus. Da die Koffer vorweg geschickt worden waren und die dicken Wintersachen dort zuviel Platz weggenommen hätten, hatten alle ihre wärmsten Sachen angezogen. Es sah aus, als ginge es auf eine Polarexpedition. Erst im Zug kamen die wahren Gestalten wieder zum Vorschein. Unsere Gruppe war bunt gemischt. Es waren Familien mit Kindern drunter, aber auch alleinreisende Jugendliche und Geschwisterpaare. Es gab Nierentransplantierte, Dialysepatienten, nierenkranke Kinder, aber auch gesunde Geschwister, Eltern und sogar eine netten Onkel, der mit Neffe und Nichte unterwegs war. Wir freundeten uns rasch an und beim Umsteigen in München waren wir schon eine Gemeinschaft.
Dann kamen die ersten Berge in Sicht. Die Landschaft wurde abwechslungsreicher, Tunnel folgten auf Brücken und in Bischofshofen hieß es Aussteigen. Dort warteten Kleinbusse für das letzte Stück auf uns, und dann kam der große Moment. Nach über 10 Stunden Reise fuhren die Busse im letzten Tageslicht in die schmale Straße ein, die zum Ederhof führte. Wir waren angekommen!
Wir wurden sehr herzlich empfangen. Zimmer waren bereits eingeteilt, die Koffer standen im Arzthäusl. Beim ersten Erkundungsrundgang fiel uns vor allen Dingen eins auf: die Stille. Kuhglocken klönkerten, irgendwo im Tal bimmelte eine Kirchenglocke und sonst hörte man – nichts! Wir waren wirklich im Urlaub. Weg von zu Hause. Das erste Mal seit vier Jahren. Und es gab Topfenknödel zum Abendbrot.
Der nächste Tag war ein Sonntag. Vormittags erkundeten wir die Anlage, einige wagten sich schon in die Berge. Die Kinder hatten die Turnhalle für sich entdeckt. Was man dort alles machen konnte! Trecker fahren, Tischtennis spielen, krökeln, auf Pedalos balancieren oder ganz einfach abhängen. Nachmittags war es mit dem faulen Leben allerdings schon vorbei. Das „Helenkirchl“ stand auf dem Programm. Unser Organisator, gut gelaunt und Ederhof-erfahren, kündigte eine „kleine Wanderung, zirka ein halbe Stunde“ an. Für die ganz Kleinen wurden Buggies mitgenommen und dann machten wir uns auf den Weg. So klein sah der Berg gar nicht aus. Nach einer halben Stunde konnte man schon ein Stückchen nach unten gucken, aber es ging noch reichlich nach oben weiter. Erster Unmut kam auf. „Die halbe Stunde ist doch schon vorbei! Wieso geht es immer bergauf! IMMER müssen wir wandern!“ Es dauerte dann doch etwas länger, wir hatten unterschätzt, dass sich die Körper erst an die ungewohnte Höhe von über 1000 Metern über NN gewöhnen mussten. Aber die Stimmung stieg mit jedem Höhenmeter und als wir oben waren, wurden wir mit einer wunderbaren Aussicht und dem tollen Gefühl, es geschafft zu haben, belohnt.
Die folgenden zwei Wochen gab es für jeden Geschmack etwas. Es war wirklich hervorragend organisiert. Die nette Belegschaft des Ederhofes verwöhnte uns nach Strich und Faden. Das Essen war hervorragend, es wurde sogar Wäsche gewaschen, für die ganz Kleinen gab es einen Kindergarten, so dass auch die Mütter mal entspannen konnten. Die Jugendlichen waren zusammen in „Jungendzimmern“ untergebracht, wo man auch zur Schlafenszeit noch Kichern hören und Spaß haben konnte.
Einer der Höhepunkte war sicherlich der Besuch des Klettergartens auf der gegenüberliegenden Talseite. Jeder wurde mit Gurt und Helm versehen und nach einer kurzen Einführung konnte man sich über zwischen den Bäumen gespannte Stahlseile durch den Wald hangeln. Die Seile verliefen wagerecht, aber der Hang darunter fiel stark ab. Ein Blick nach unter und plötzlich wurde uns klar: wir waren fast 20 Meter über der Erdoberfläche! Sofort begannen die Seile, die eben noch stabil schienen, zu wackeln und viel dünner auszusehen. Die letzten Meter bis zur Abseilstelle waren eine Herausforderung an Magen und Beine. Aber dann wurden wir mit einer rasanten Rutschpartie zurück zur Erde belohnt. Das Gefühl, es geschafft zu haben, war großartig. Wir klopften uns auf die Schultern und fühlten uns als Helden.
Die Zeit verging. Inzwischen hatten sich Interessengruppen zusammengefunden. Einige Bergbegeisterte hatten sich inzwischen im Gipfelbuch des Ederplan (2066 m) eingetragen und strebten nach noch höherem. Sie verabredeten sich zu einer Wanderung auf die Jungfrau in den Schnee. Am Abend wurden auf Bildern gezeigt, wie die Bergsteiger unter dem Gipfelkreuz und einem unglaublich blauen Himmel ihre Leistung feierten.
Die jugendlichen Teilnehmer lebten lieber nach dem bewährten Motto „Berge sind auch von untern schön“ und beschäftigten sich gerne allein ohne Erwachsene. Hin und wieder hörte man Gerüchte von einer Party, die gegen Ende der Freizeit steigen sollte.
Der Ederhof als Rehazentrum für Kinder vor und nach Organtransplantationen wurde in den 90er Jahren von Herrn und Frau Professor Pichlmayr gegründet. Herr Professor Pichlmayr, ein visionärer Pionier auf dem Gebiet der Organtransplantationen bei Kindern und Erwachsenen ist leider viel zu früh verstorben. In diesem Jahr jährte sich sein Todestag zum 10. Mal und wir veranstalteten zu diesem Anlass einen Gedenkgottesdienst in der benachbarten Kapelle. Es war ergreifend zu sehen, wie die Kinder und Erwachsenen ihren Dank und ihre Hoffnungen für die Zukunft ausdrückten. Die Kirche war bis auf den letzten Stehplatz gefüllt und besonders schön war es, dass auch Frau Professor Pichlmayr dabei sein konnte, die das Lebenswerk ihres Mannes mit großem Engagement fortführt.
Das weitere Programm für die Ferien war abwechselungsreich und kurzweilig. Kreative konnten mit Holz und Papier basteln, Sportler klettern, laufen und wandern, kleine und große Kinder wurden bespielt. Gegen Ende des Aufenthaltes gab es noch einen besonders schönen Ausflug, der Besuch bei „Hackerbauern“. Auf diesem höchstgelegenen Bauerhof Kärntens, auf über 1500 m, gab es außer strahlendem Sonnenschein, einer fantastischen Aussicht und kreisenden Steinadlern auch eine Forellenzucht. Als wir kamen, war der Grill bereits angeheizt, die Forellen schwammen allerdings noch im Teich. Schnell zu den Angeln! Im klaren Wasser konnte man die Forellen deutlich an den Ködern schnuppern sehen. Lächelten sie nicht sogar ein wenig dabei? Endlich biss die erste an. Dann aber ging es Schlag auf Schlag. Die Forellen wurden an Ort und Stelle ausgenommen und auf den Grill gelegt. Wir versicherten uns gegenseitig, noch nie besseren Fisch gegessen zu haben. Alle Teller wurden ratzeputz leer gegessen.
Nun waren die Ferien schon fast vorbei. Seit einiger Zeit machte sich auch eine gewisse Unruhe und Geheimniskrämerei in den Jugendzimmern bemerkbar. Es wurde getuschelt und geflüstert. Mehrere Expeditionen zum Supermarkt im Tal fanden statt. Plötzlich hatten alle ihr Herz fürs Basteln entdeckt. Auf alle Fragen kam nur ein „Och nö, es ist nix!“ zur Antwort. Eines Nachmittags war die Turnhalle versperrt, von drinnen war Gerumpel und Geklirre zu hören. Beim Abendbrot kam dann die die überraschende Mitteilung, dass am Abend eine Party stattfände. Und da es der 31ste Oktober war, gab es eine Halloween-Party! Große Begeisterung! Gruselige Gestalten schwirrten plötzlich in der Turnhalle herum. Auf der Tischtennisplatte war ein Naschbuffet angerichtet. Und wo hatten die Mädchen plötzlich ihr schickes Disco-Outfit her? Es wurde gelacht und getanzt. Beim Limbo waren die unter20-jährigen deutlich im Vorteil, bei den Älteren knackte es dann doch im Rücken. Als nach elf Uhr endlich alles abgebaut wurde, ging ein schöner Tag und gleichzeitig auch ein schöner Urlaub zu Ende.
Am Sonnabend standen die Koffer wieder im Arzthäusl, die dicken Jacken waren wieder angezogen und die Polarexpedition machte sich auf den 10-stündigen Rückweg nach Hannover. Viele mussten von dort noch einige weitere Stationen bis nach Hause fahren. Und alle waren sich einig: es ist ein wunderschöner Urlaub gewesen und wenn es klappt, dann kommen wir nächstes Jahr wieder.
Danke Ederhof!
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